Plastikberge am Polarkreis
von Ralf Birke
Der Abisko-Nationalpark ist ein beliebtes Reiseziel bei Tracking-Fans auf Selbstfindungsfahrt. Auch beim Autor hinterlässt das bloße Vorbeifahren intensive Eindrücke. Quelle: http://palmundenke.de/ | Autor: Ralf Birke
Lappland: Natur, Weite, ein Ökosystem, in dem sich neben den Samen, Finnen, Norwegern und Schweden nur an wenigen Stellen auch Touristen tummeln. Für Outdoor-Fans ein Sehnsuchtsort, für Freunde warmer Temperaturen keine Option. Genau das, was ich gesucht habe. Ich habe es auch gefunden. Aber leider auch die Erkenntnis, dass die Problematik des Plastikmülls längst die Weiten rund um den Polarkreis erreicht hat.
Ich befinde mich 68.382996 Nördlicher Länge und 18.8360 Östlicher Breite in Abisko, einem der schönsten Naturparks im schwedischen Teil Lapplands. 200 Kilometer nördlich des Polarkreises. Es ist September. „Ruska"-Zeit. Vier Wochen in den Jahreszeiten zwischen Kalt (Herbst, Winter, Frühling) und Kühl (Sommer), in denen die Blätter der hier oben gerade mal noch mannshoch wachsenden Birken und Ebereschen in einen kaum zu fassenden Farbrausch übergehen. Bevor sie beim ersten Frost alles fallen lassen und in den Winterschlaf verfallen.
Vorrat an Eindrücken
Die Tour durch den nördlichen Norden Skandinaviens führt mich durch menschenleere Gegenden, unglaubliche Ruhe und eine Natur, die sehr berührt. Eine unserer Stationen, an denen ich ziemlich viel Zivilisation zu spüren bekomme, ist Abisko. In Abisko leben etwa 40 Menschen. Ich nenne solche Orte auf meiner Tour durch Lappland inzwischen „Hotspot“. Es gibt „alles“, was man in 100 Kilometern und mehr ansonsten nicht findet: zwei Tanksäulen, einen Laden und eine Informationstafel für Touristen. Und weil hier der „Kungsleden“ beginnt, einer der legendären Trails durch den Norden Skandinaviens, gibt es auch noch eine Jugendherberge und ein Infozentrum. Auf so viel Zivilisation muss ich mich nach Tagen in der Tundra erst wieder einstellen.
Eine gute Gelegenheit, um die Vorräte aufzufüllen. Ich bin bescheiden geworden, hier oben. Grundnahrungsmittel, kein kulinarischer Schnickschnack. Die Eindrücke, die Stille, das Selbstfinden machen mich satt. Also schnell in den Supermarkt und schnell wieder raus. Mit mir laufen andere Reisende durch die Gänge. Riesige Rucksackgebirge auf dem Rücken, coole Outdoor-Klamotten und mit jenem entspannten Gesichtsausdruck, den man zwangsläufig hier oben bekommt. Wer hierher gefunden hat, findet sich auch selbst ( – und ja, man staunt, was man da entdeckt).

Die laute Farbenpracht des frühen Herbstlaubes im Nationalpark ließ den Autor immer wieder in stille Bewunderung versinken. Sein Eindruck: Noch scheint die Natur unberührt von unserem Plastikwahn. Quelle: http://palmundenke.de/ | Autor: Ralf Birke
Plastik am laufenden Meter
Leider finde ich beim Einkauf auch wieder in die Realität. Ich hatte Themen wie Plastikmüll, Meeresverschmutzung und verunreinigtes Trinkwasser dank der dauerpräsenten Natur und meiner Urlaubsstimmung hinter mir gelassen. Der Satz „hier darfst du überall das Wasser aus der Leitung trinken“, förderte dieses Gefühl. Ich freue mich: Entfällt immerhin der Einkauf von Wasser in Plastikflaschen.
Aber alles andere im Laden: Kaum ein Lebensmittel, das nicht in mindestens eine Schicht Kunststoff eingeschlagen ist. Schüsselchen aus hartem Plastik unter dem Schinken und unter dem Käse, Folie darüber, meterweit im Kühlregal. Brot, Gemüse, Obst – alles in Plaste gepackt. Obst- und Frischetheken leider Fehlanzeige. Nicht nur hier. Wir erleben das auch in den anderen Supermärkten, die auf unserer Route liegen.
Nur in den – wenigen – größeren Städten (heißt: bis zu 5000 Einwohner) finden sich auch lose Lebensmittel. Überwiegend sind aber auch dort die Produkte in die üblichen Hüllen aus Stanniol, Mehrschichtkunststoffen und allem verpackt, das den Inhalt vor der Umwelt schützt.
Müllkippe unter Grönland
Nur umgekehrt haut es nicht hin. Die Umwelt wird kaum vor der Verpackung geschützt. Kleiner Exkurs nach der Internetlektüre an einem Regentag irgendwo im schwedischen Teil Lapplands: In der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen haben Wissenschaftler demnach den sechsten großen Müllstrudel der Erde entdeckt. Inzwischen gehen Untersuchungen davon aus, dass der Meeresboden dort zu einer großen Müllkippe verkommt, weil in dieser Region der Plastikmüll zu Boden sinkt. Mehrere Faktoren sind dafür vermutlich verantwortlich. Unter anderem auch schmelzende Eisberge, die das Plastik mit in die Tiefe ziehen. Ich klappe das Laptop wieder zu.
All das weiß ich noch nicht, als ich die Berge von plastikverpackten Lebensmitteln sehe, die die langbärtigen Jungs vor mir aus ihren Einkaufswagen aufs Förderband wuchten. Es muss eine große Gruppe sein, die hier versorgt werden soll. Schwer vorstellbar, dass das alles samt Umverpackung in den Rucksack wandert. Ich überlege, wie der gleiche Einkauf im heimatlichen Supermarkt aussehen würde. Ernüchterndes Ergebnis: Vielleicht ein bisschen weniger Volumen, aber sonst ... Zu Hause würde draußen eine mitteleuropäische Großstadt mit Parkplatz, Ampeln, vierspurigen Straßen, Lärm, Abgasen warten. Irgendwie ist diese Art des Einkaufs da eingepreist.
Aber hier? Nur ein paar Meter hinter dem Supermarkt beginnt die Wildnis. Wer vom Weg abkommt, sollte einen Kompass und genug warme Kleidung dabei haben. Und Proviant.
Nur Weizenbier in der Glasflasche
In meinem Einkaufswagen liegt zwar auch so einiges, aber halt nur für zwei. Das trägt nicht so auf. Das alkoholreduzierte Bier ist nur in Dosen erhältlich (außer einem bayerischen Weißbier für acht Euro; 4.500 Kilometer weit transportiert), Softdrinks nur in Plastikflaschen aller Größen und Gebinden in den wildesten Farben.
Ich bin im Urlaub. Da hat man so seinen Disput mit der Wirklichkeit. Aber es irritiert mich. Es passt einfach nicht in das Lebensgefühl hier oben. Man erdet sich, nimmt Kontakt zur Natur auf, fährt die Taktzahl auf ein menschliches Maß herunter. Gerne würde man diese Natur in Schutz nehmen. Vermutlich würden wir das am effektivsten tun, wenn wir nicht hier wären.
Aber klar, auch die hier lebenden Menschen wollen sicher und zuverlässig mit Lebensmitteln versorgt sein. Für die Romantik eines Bioladens ist wenig Raum, wenn im langen Winter von Abisko die Lieferung tagelang im Schnee steckt. Lebensmittel müssen hier haltbar sein. Sonst ist auch ihr Lieferweg umsonst.

Das hatte unser Autor von einem kleinen Nest wie Abisko eigentlich erwartet: Am Horizont Kilometer weit nichts als nordische Wildnis, davor ein kleiner Hafen und ein paar zerstreute Häuschen. Nicht jedoch einen Supermarkt voller Plastikverpackungen. Quelle: http://palmundenke.de/ | Autor: Ralf Birke
Widersprüche auf Reisen
Was bleibt? Die eigenen Widersprüche im Umgang mit den Ressourcen erscheinen im Wachzustand der arbeitsfreien Zeit wie im Scheinwerferlicht. Man sieht die Dinge in einer Deutlichkeit und Pointiertheit, wie es im Alltag zu Hause nicht passiert. Man entwickelt Verständnis und gleichzeitig blickt man in einen Einkaufswagen, der vor Umverpackungen nur so strotzt.
In dieses Gefühl hinein fällt der Blick nach dem Verlassen des Ladens auf vier große Container zur Mülltrennung. Ich erinnere mich: selbst in den Urlaubshäusern und -hütten stehen meist mehrere Behälter bereit, um die unterschiedlichen „Wertstoffe“ aufzunehmen. Die sichtlich viel benutzten Container vor der atemberaubenden Kulisse der schneebedeckten Berge des Abisko-Nationalparks – werde ich dieses Bild mit nach Hause nehmen?
Dieser Text gibt eine Antwort darauf.
Aber für meine Begeisterung über Land, Leute und Erlebnisse spielt es keine Rolle. Da schützt sich die Erinnerung selbst. Vom Urlaub muss auch ich zehren und möglichst lang an eine bessere Welt glauben.
P.S. Übrigens stammt der Ausdruck „Plogging“ aus Skandinavien. Die umweltfreundliche Aktivität aus Laufsport und dem Aufpicken von Straßenmüll verdankt ihre Wortkreation aus der Verbindung der beiden Worte „Jogging“ und dem schwedischen „plocka“ für „etwas aufheben“.