Meerjungfrau in Nöten!
von Katharina Raab
Meerjungfrauen sind seit jeher Teil der Mystik rund um die Seefahrt. Quelle: https://www.unsplash.com/ | Autor: Alex Blajan
„Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas“, beginnt Hans Christian Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ (1862). Erfunden hat er das literarische Motiv der Meerjungfrau keineswegs. Und doch leitet seine Geschichte einer tragischen Nixe mit ausgeprägter Sehnsucht nach allem Menschlichen einen Prozess ein, der uns den einst schaurig schönen, männermordenden Schuppenschwanz-Wesen aus der Tiefe näher bringt: die Cutification, die Verniedlichung der Meerjungfrau.
Hübsch ist sie schon. Das Bronzeabbild im Kopenhagener Hafen der „kleinen Nixe“ ist nicht nur das zierlichste, sondern sicher auch eines der meist geknipsten Wahrzeichen der Welt. Erst recht seit sich Disney 1989 der kleinen Meerjungfrau angenommen hat. Rotes Walle-Haar, lila Muschelbikini, der beste Freund ein gelb-blauer Fisch – furchteinflößend geht anders. Und auch das Verhaltensmuster der kleinen Nixe passt so gar nicht zu ihrer eigentlichen Bestimmung, verliebt sie sich doch hoffnungslos in einen Menschen-Mann. Einen, den sie doch, stützt man sich beispielsweise auf die poetischen Schilderungen Joseph von Eichendorffs zwar mit ihrer Schönheit verführen, abschließend aber auf jeden Fall grausam ertränken müsste, wie all die in der mittelalterlichen Literatur und an den Lagerfeuern der Romantik ersonnenen Nixen, Nymphen und Sirenen es vor ihr auch getan hätten. Auch Odysseus kann ein Liedchen von unerfreulichen mythischen Begegnungen dieser Art singen. Nein, diese wohlgemerkt „kleine“ Nixe ist anders, ungefährlich, und sie macht den Weg frei für allerlei romantische Projektion und natürlich Identifikation. Von der totalen Selbstaufgabe und der Auflösung in Meerschaum wie in dem Filmklassiker „Die kleine Meerjungfrau“ von 1976 einmal abgesehen.

Die kleine Meerjungfrau verzaubert in Kopenhagens Hafen Touristen aus aller Welt. Quelle: https://pixabay.com | Autor: eorihuela
Schönheit aus Schaum
Nur reicht es uns heute nicht mehr aus, von zahmen und niedlichen Nixen zu lesen. Wir möchten selbst Nixe sein oder sie zumindest sehen. Live und zum Anfassen. Und so hat jeder ambitionierte Aqua-Park dieser Tage seine eigene Arielle, die, todesmutig mit glitzerndem Schuppenschwanz und natürlich mit Muschelbikini sowie wogendem Haar, vor Publikum zwischen Haien taucht. Die Steigerung der Aqua-Park-Arielle ist die Jedermann-Nixe. Denn zunehmend streifen sich Frauen die Glitzer-Flosse einfach selbst über die Schenkel, um – vielleicht weniger anmutig als die Aquapark-Arielle, innerlich aber doch sinnlich und entgrenzt – ihre Bahnen in einem Pool oder vor der Küste einer hippen griechischen Insel zu ziehen. „Mermaiding“ boomt, und immer mehr Frauen erliegen zunehmend der Sehnsucht, der inneren Meerjungfrau endlich Bahn zu brechen. Eskapismus statt Feminismus? Vielleicht liegen die Dinge auch einfacher. Die Planscherei mit Schuppenschwanz macht vermutlich schlicht großen Spaß. Tummelt sich der Mensch doch meistens ganz gerne im Wasser, und das obwohl es dort nicht gerade ungefährlich für ihn ist. Evolutions- und Meeresbiologen haben unsere existenzielle Hingezogenheit zum Wasser hinlänglich erforscht. Doch es ist nicht nur das Eintauchen in eine vermeintliche Schwerelosigkeit, die uns offenbar am Meerjungfrauen-Dasein fasziniert. Vielmehr steht die Nixe heute für ein neues (und eben doch sehr altes) Bild von Weiblichkeit: süß und sexy zugleich. Frei, ungezähmt und vor allem von atemberaubender Schönheit. Wen wundert’s: Auch Aphrodite, Göttin der Schönheit, soll einst aus Meerschaum geboren worden sein.
Beseelte Natur
Die Natur als großes Mysterium, in dem alles zu erwarten ist. Verborgenes, Unzähmbares und ja, Gefährliches. Schreckliche Wesen, die uns locken und heimsuchen. Diese Zeiten sind lange vorbei, postuliert Hartmut Böhme in seiner „Kulturgeschichte des Wasser“ (1988). Natürlich fürchten wir heute wie einst, die Zerstörungskraft der Natur, auch die des Wassers. Bestaunen angstvoll jede Flut, jeden Hurrikan, jeden Tsunami, der uns kurzzeitig daran erinnert, wer hier die Zügel in der Hand hat – und vergessen es doch schnell wieder. Der Mensch hat sich längst aus seiner Bedrängnislage befreit und sich selbst in das Zentrum aller Dinge gestellt. Steckte früher in jedem dunklen Wald, in jedem tiefen Wasser ein Geist, ein Kobold und ja eine Nixe, begegnen wir der Natur heute entweder mit Zerstörungswut oder mit einer Kamera, um Instagram-würdige Panoramen festzuhalten. Die Natur als Kulisse. Die Realität gänzlich entzaubert. Eigentlich klar, dass wir uns nur allzu gerne in künstliche Fantasie-Welten und mit Fischschwanz in die Fluten stürzen.

Der Mensch im Zentrum: Wer die Natur entzaubert, muss den Mythos selbst inszenieren. Frauen, die als Meerjungfrauen verkleidet durchs Wasser gleiten, sind heute kein seltener Anblick mehr. Quelle: www.unsplash.com | Autor: Allie Smith
Fischweiber und Seekühe
Platz für erlösungsbedürftige und grausame Melusinen, Undinen oder Loreleys ist da nicht mehr. So verführerisch sie auch sind, diese herrlichen Naturgewalten, die die männliche Ratio mühelos brechen und in Leidenschaft umkehren. Sex und Tod liegen eben nicht erst seit Freud ganz nah beieinander. Realität und Vision dafür umso weiter. Und so soll so mancher liebeshungrige Seefahrer nach Wochen der Abstinenz schon mal in den vollschlanken Leib einer Seekuh die reizvollen Rundungen eines Fischweibs hineinhalluziniert haben. Der Meerjungfrauen-Mythos also begründet durch eine fatale Verwechslung? Warum auch nicht. Ob Fischweib oder Seekuh, es ändert nichts. Arielle, die Niedliche, ist übermächtig.
Wer sich selbst einmal dabei ertappt, wie er mit buntem Haar und Muschelbikini frei wie ein Fisch vor Korfus Küste badet und sich beim Anblick der Weite des Meeres heimlich fragt, ob es nicht vielleicht doch Geheimnisse birgt, die wir mit unserem vermeintlich gesunden Menschenverstand nicht fähig sind zu erfassen, der sei daran erinnert: Ja, weit draußen im Meer scheint das Wasser immer noch kornblumenblau, wenn auch durchsetzt von bunten Sprenkeln, sein glasklares Antlitz getrübt von Geschwadern aus Plastik, Unrat und allem, was wir sonst noch loswerden wollten – vergessend, dass der Ozean vielleicht unergründlich, aber eben nicht unendlich ist und vieles, das wir ihm geben, irgendwann wieder zurück an unsere Ufer und Küsten spült. Gäbe es weit draußen und tief unten doch eine kleine Nixe mit Menschensehnsucht, die in einer Höhle alles sammelte und bewunderte, was von uns gemacht wurde, sie würde heute Plastiktüten horten und uns dann ganz ordinär die Flosse zeigen.
Quellen:
- http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/mermaiding-die-meerjungfrauen-von-korfu-15690901.html
- https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/05/wasser-schwimmen-natur-einklang
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Böhme, Hartmut (Hg.), „Kulturgeschichte des Wassers“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1988