Als der Rhein sich rot färbte
von Herbert Fuehr
Die Stasi vermutete Brandstiftung hinter dem Großbrand von Schweizerhalle. Das konnte sich bisher nicht eindeutig bestätigen. Egal was die Ursache war, die Folgen für die Natur waren verheerend. Quelle: https://pixabay.com/ | Autor: skeeze
Keine Frage: Der Großbrand von Schweizerhalle ist eine der größten Umweltkatastrophen des 21. Jahrhunderts. Nicht nur das Ökosystem wurde für Jahrzehnte beeinträchtigt, auch die Menschen litten unmittelbar unter den Folgen. Der Vorfall machte in der Öffentlichkeit sichtbar, wie stark der Rhein durch die Industrie gefährdet ist. Ein langsamer Prozess des Umdenkens wurde in Gang gesetzt.
Am 1. November 1986 drangen aus einem Lager der Sandoz AG bei Basel dicke Qualmwolken. Was anfangs von dem Chemieriesen und den beteiligten Behörden als bloße Betriebspanne abgetan wurde, wuchs sich zur veritablen Katastrophe aus. Weil sich erst ein halbes Jahr zuvor ein schweres Reaktorunglück in der Sowjetunion ereignet hatte, war in der Öffentlichkeit schon bald von einem zweiten Tschernobyl die Rede.
Folgen für Mensch und Natur
Was war passiert? Ein Feuer war in der sogenannten Schweizerhalle ausgebrochen, in der 1.351 Tonnen Chemikalien lagerten. Kurz nach Mitternacht wurde die Feuerwehr alarmiert, die priorisiert die umliegenden Gebäude vor dem Übergreifen der Flammen schützte. Mit dem abfließenden Löschwasser gelangten aber von den mehr als 1.000 Tonnen gelagerter größtenteils giftiger Chemikalien rund 30 Tonnen Pflanzenschutzmittel in den Rhein. Dort lösten sie bis in den Mittelrhein ein großes Fischsterben aus. Besonders betroffen waren Aale, und das auf einer Strecke von 400 Kilometern. Die sensiblen Tiere sind ein guter Indikator für die Qualität eines Gewässers.
Doch auch Menschen waren bedroht: Aus dem Einzugsgebiet des Rheins beziehen in den neun Anrainerstaaten rund 30 Millionen Menschen (davon fast die Hälfte in Deutschland) ihr Trinkwasser. Zum Großteil aus Uferfiltrat, also aus Wasser, das in der Nähe der Oberflächengewässer (dem Rhein) bei der Versickerung durch einen natürlichen Prozess gereinigt wird, in einen unterirdischen Brunnen fließt und dann wie Grundwasser aufbereitet wird, ehe es als Trinkwasser zum Konsumenten kommt. Beiläufig wurde bekannt, dass am Tag vor dem Brand die benachbarte Ciba-Geigy AG 400 Kilogramm des Herbizids Atrazin in den Rhein geleitet hatte – nicht zum ersten Mal, aber erstmals in dieser großen Menge.
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Vergleiche mit Tschernobyl
Tatsächlich gab es etliche Parallelen zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Hier wie da war etwas passiert, was nach Auskunft vieler Experten nicht hätte passieren dürfen. Hier wie da versuchten Verantwortliche, das Ausmaß zu verschleiern und zu verharmlosen. Hier wie da wurde deutlich, wie real das Restrisiko ist, das hinzunehmen eine technisierte Gesellschaft angeblich bereit sein muss. Im Fall Tschernobyl waren es die sowjetischen – und, als die Strahlenwolke kam, unter anderem auch die bayerischen – Behörden, welche die Gefahr negierten. Im Fall Schweizerhalle mühte sich vor allem die Chemieindustrie, die Tragweite herunterzuspielen. Sie fürchtete nämlich, dass die Sicherheitsauflagen nun verschärft werden und dies die Branche viel Geld kosten könnte.
Es gibt aber auch deutliche Unterschiede: Tschernobyl löste einen Schock aus, aber kein wirkliches Umdenken. Das kam erst viel später. Anders am Rhein: Der Sandoz-Unfall war ein Weckruf und wirkte, auch weil die Öffentlichkeit alarmiert war, zugleich als Katalysator für die Anstrengungen, den Fluss zu retten, der zur Kloake zu verkommen drohte. Tatsächlich war der Rhein nicht nur mit allerlei Fabrikabwässern vergiftet und durch die Rückstände aus dem französischen Kalibergbau versalzt, sondern auch durch das Kühlwasser der Industriebetriebe aufgeheizt. Und ständig kamen neue mehr oder weniger giftige Stoffe hinzu.
Organisierter Gewässerschutz
Weil von der Gewässerqualität dieses längsten aller deutschen Flüsse die Gesundheit von zig Millionen Menschen abhängt, bemühten sich schon seit langem verschiedene Organisationen um seine Reinhaltung. In erster Linie waren und sind das die Arbeitsgemeinschaft der Rheinwasserwerke (AWR) und die 1970 gegründete Internationale Arbeitsgemeinschaft der Wasserwerke im Rheineinzugsgebiet (IAWR) sowie die staatliche Internationale Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR), der wiederum die IAWR als Nicht-Regierungsorganisation angehört.
1973 veröffentlichte die IAWR ihr erstes Rhein-Memorandum, „weil es in dem Fluss immer schlimmer wurde", erläutert Geschäftsführer Matthias Schmitt im Gespräch. „Wir mussten deutlich machen, was wir wollen." Es ist nicht weniger als „alle Verantwortlichen – Parlamente, Behörden und die Wasserverschmutzer – sowie die interessierte und betroffene Öffentlichkeit auf die schon in naher Zukunft drohenden Gefahren für die Sicherstellung ausreichender Mengen von einwandfreiem Trinkwasser mit Nachdruck hinzuweisen“, wie es einleitend heißt. Dazu verfassten die Wasserwerke zwölf Leitsätze und eine Reihe von Vorschlägen für Grenzwerte.
Sie gelten alle heute noch, und Leitsatz vier ist nach den Worten von Matthias Schmitt für die IAWR oberstes Prinzip: „Die Trinkwassergewinnung muss unbedingt Vorrang bei allen Nutzungen des Wassers haben und deshalb in erster Linie bestimmend für alle Reinhaltemaßnahmen sein." Gefordert wird unter anderem auch, dass Behörden schon die Abwassereinleitungen und nicht erst die Gewässerbelastung scharf kontrollieren und Einleitungen mit einer „schadstoffgerechten Gebühr" belegt werden sollten.
Das Sandoz-Unglück und seine Folgen

Zusammen mit der Halle wurden 1350 Tonnen Chemikalien verbrannt, darunter unter anderem Agrarchemikalien und Quecksilberverbindungen. Quelle: https://pixabay.com/ | Autor: MichaelGaida

Etwa 30 bis 40 Tonnen toxischer Stoffe gelangten ungehindert in den Rhein und in den Boden am Werk. Quelle: https://pixabay.com/ | Autor: jarmoluk

Noch 400 Kilometer flussabwärts verendete fast sämtliche Äschen und Aale. Auch der Zander- und Hechtpopulation wurde stark zugesetzt. Quelle: https://pixabay.com/ | Autor: Redkite

Auch der Mensch war betroffen: In Deutschland und anderen Rheinanrainerstaaten brach die Trinkwasserversorgung kurzzeitig zusammen. Quelle: https://pixabay.com | Autor: LoggaWiggler

Monate nach dem Unglück starben unzählige Seevögel an den Folgen der Verunreinigung. Quelle: www.pixabay.com | Autor: Ben_Kerckx

Das Unglück machte sichtbar, wie stark die Gefährdung der Gewässer durch die Industrie ist. Bürgerproteste und kritische Presseberichte machten Druck auf die Konzerne. Quelle: https://www.flickr.com | Autor: Gustave Deghilage/Bildausschnitt

Die Folgen der Sandoz-Katastrophe sind heute kaum noch spürbar, doch die Verschmutzung durch die Industrie bleibt ein Problem. Quelle: https://pixabay.com/ | Autor: Marys_fotos
Öko-Optimismus
Im Memorandum von 1986, das kurz vor dem Sandoz-Unglück erschienen war, hieß es noch optimistisch, für die Reinhaltung sei dank gemeinsamer Anstrengungen von Ländern, Gemeinden und Industrie schon „viel erreicht worden", gerade in Hinblick auf Schwermetalle und sichtbare Verschmutzung, aber die Fracht schwer abbaubarer organischer Substanzen sei nach wie vor zu hoch. Und es wurde ein neuer Leitsatz formuliert: „Der Grundsatz, dass der erreichte Gewässerzustand keinesfalls wieder schlechter werden darf, muss am Rhein streng eingehalten werden."
Das Unglück im November 1986 hat die Bundesrepublik nachhaltig für den Gewässerschutz sensibilisiert. Intensivere Sicherheitsauflagen und schärfere Kontrollen in den Betrieben sowie zahlreiche Messstellen tragen heute dazu bei, Belastungen in Gewässern frühzeitig zu erkennen.